Gastbeitrag von Arndt G. Kirchhoff, Präsident von METALL NRW
Es war ein U-Turn in Höchstgeschwindigkeit! Mitten in den Verhandlungen zu einem neuen Tarifvertrag zwang der Ausbruch der Pandemie die Tarifvertragsparteien der Metall- und Elektroindustrie zu einer schnellen Reaktion. Noch bis weit in den März hinein hatten sich die Gespräche vorrangig um die Frage gedreht, welchen Beitrag die Tarifparteien zur Bewältigung der enormen Herausforderungen der Transformation leisten könnten. Doch von jetzt auf gleich mussten im Angesicht der über uns hereinbrechenden Krise die Prioritäten neu gesetzt werden. Für alles andere hätte wohl niemand in unserem Land auch nur einen Hauch an Verständnis aufgebracht.
Gerade in Krisenzeiten brauchen Unternehmen und Beschäftigten wenigstens tarifpolitische Planungssicherheit. Darin waren sich Metallarbeitgeber und IG Metall in Nordrhein-Westfalen schnell einig. Vertrauen in das gemeinsame Handeln bot der Blick zurück in das Jahr 2010. Im Zusammenspiel mit der Politik konnten wir damals – in der schweren Rezession infolge der Finanzkrise – mit unserem auch in Nordrhein-Westfalen verhandelten Tarifabschluss dazu beitragen, dass in der Metall- und Elektroindustrie die meisten Unternehmen im Markt und die meisten Beschäftigten in Arbeit bleiben konnten.
Auch jetzt war wieder tarifpolitisches Krisenmanagement gefragt: Weitere Kostenbelastungen für die Betriebe mussten vermieden und Unternehmen zudem im Sinne der Beschäftigungssicherung von bisher unvermeidlichen Kosten der Kurzarbeit befreit werden. Mitarbeitern, die von Kurzarbeit besonders hart betroffen sind, sollte geholfen werden. Und Beschäftigte, die plötzlich nicht mehr wussten, wie sie ihre Kinder betreuen sollen, brauchten Unterstützung.
Die Tarifparteien haben dazu gute Lösungen gefunden. So können nun auf Betriebsebene Unternehmen und Betriebsrat die tariflichen Remanenzkosten bereits ab dem ersten Tag der Kurzarbeit senken, wenn im Gegenzug Beschäftigungssicherung gegeben wird. Auch verfügen die Betriebsparteien jetzt über einen Härtefallfonds, aus dem die finanziellen Einbußen der von Kurzarbeit besonders betroffenen Mitarbeiter abgemildert oder sogar ausgeglichen werden können. Außerdem wurde vereinbart, Mitarbeitern mit besonderen Betreuungsproblemen unter bestimmten Voraussetzungen fünf zusätzliche Tage Freistellung zu gewähren. Und auch der Entgelt-Tarifvertrag wurde bis zum Jahresende unverändert wieder in Kraft gesetzt.
Die Verhandlungsatmosphäre der Tarifpolitiker war – bei allen Gegensätzen – von gegenseitigem Verständnis für die größten Sorgen der jeweils anderen Seite geprägt. Alle Beteiligten wussten um ihre Verantwortung für den bedeutendsten deutschen Industriezweig. Sie war umso größer, als dass – anders als sonst üblich – pandemiebedingt die Hintergrundkommissionen von Arbeitgebern und Gewerkschaft nicht vorort sein konnten und Meinungsbildung anders organisiert werden musste. Die schnelle Übernahme aller anderer Tarifgebiete zeigt, dass die Einigung – unter Berücksichtigung regionalspezifischer Besonderheiten – bundesweit Konsens gefunden hat. Nun ist der Arbeitsfrieden in der deutschen Metall- und Elektroindustrie bis zum Jahresende gesichert.
Diese Krise lehrt uns Manches. So etwa, dass die Menschen in Zeiten, in denen unser aller Leben scheinbar aus den Angeln gehoben wird und vieles nicht mehr so ist wie es mal war, vor allem Verlässlichkeit und Perspektiven verlangen. Gerade dann müssen sich zentrale Institutionen einer Gesellschaft beweisen. Dies gilt für Politik und Verwaltung in besonderem Maße. Beide leisten gegenwärtig herausragende Arbeit in einer absoluten Ausnahmesituation. Das gilt aber auch für die Funktionsfähigkeit der sozialen Marktwirtschaft in unserem Land. Für sie ist die Tarifautonomie eine, wenn nicht sogar die tragende Säule. Und die hat sich gerade wieder einmal als stabil und belastbar erwiesen.
Krisenzeiten waren für harte Verteilungskämpfe schon immer denkbar ungeeignet. Denn da lautet aus gesamtwirtschaftlichem Interesse das oberste Ziel, möglichst viele Unternehmen im Land zu retten. In Anbetracht des Überlebenskampfes vieler Betriebe sind deshalb die Hilfsmaßnahmen der Bundes- und Landesregierungen für ideologische Gerechtigkeitsdebatten mehr als ungeeignet. Es geht um die Rettung von Arbeitsplätzen, nicht um eine Umverteilung zugunsten der deutschen Wirtschaft. Und deshalb sind die erweiterten Regelungen zum Kurzarbeitergeld auch kein Geschenk an die Unternehmen, sondern dienen einzig und allein dazu, Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden.
Verteilungskämpfe werden auch in unserem Land manchmal erbittert geführt. Ich mache mir keine Illusionen, dass dies – auch in unserer Industrie – dereinst wieder so sein wird. Die IG Metall hat bewiesen, dass sie – wenn es darauf ankommt – ihren zuweilen zu stark ausgeprägten Hang zur Konfliktgegnerschaft zurückstellen kann. Damit hat sie auch an viele unserer tarifgebundenen Mitgliedsunternehmen ein wichtiges Signal gesendet, die sich seit Jahren durch eine unter dem Strich überzogene Tarifpolitik der Gewerkschaft in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gefährdet sehen. Viele haben sich in der letzten Zeit Gedanken darübergemacht, den Flächentarif zu verlassen. Auch deshalb war die zurückliegende Tarifrunde eminent wichtig.
Wenn wir hoffentlich bald die Pandemie überwunden haben und uns an die Überwindung der wirtschaftlichen Folgen dieser fürchterlichen weltweiten Seuche machen, hoffe ich, dass die Erinnerung an das tarifpartnerschaftliche Miteinander in dieser existenziellen Krise wach bleibt – auf beiden Seiten. Der Blick in unser Nachbarland Frankreich, wo die Gewerkschaft CGT ausgerechnet jetzt zu einem einmonatigen Streik des öffentlichen Dienstes aufgerufen hat, sollte den Wert der Tarifpartnerschaft für unser Land noch einmal doppelt unterstreichen. Krisen werden nur im Miteinander und nicht durch Konfrontation überwunden.